Die Wahl der Qual

 

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Das Inhaltsverzeichnis
nebst einigen Leseproben

Aus dem Nähkästchen
Die ungekürzten Interviews

Nach Redaktionsschluss
Was wir gerne noch geschrieben hätten ...

Für Tippfaule
Alle Links aus dem Buch
und noch ein paar mehr.

Impressum

Aus dem Nähkästchen

Gerds Bericht

(Dieser Bericht ist außerdem unter www.smalltag.de veröffentlicht)

 

Schuld an allem hat Karl May. Oder meine Mutter? Oder doch Karl May? Die ultimative Klärung der Frage, wer jetzt wirklich dafür verantwortlich ist, daß ich BDSM betreibe, überlasse ich der Nachwelt. An drei oder vier Schlaglichter aus meiner kindlichen und pubertären Zeit kann ich mich erinnern, die alle etwas mit der Lust am Quälen und der Lust am (Er)Leiden zu tun haben. Da ist meine Mutter, die mich als Kind oft und übermäßig schlug, mit der von mir damals schon als äußerst unglaubwürdig empfundenen Begründung, sie tue dies nur, weil sie mich lieb habe, was aufgrund der willkürlich gesuchten und dann auch gefundenen Anlässe meiner Bestrafung tiefen Argwohn in mir auslöste. Da waren die Bücher von Karl May, dessen detaillierte Schilderungen von Qualen an indianischen Marterpfählen und morgenländischen Bestrafungen mit der Nilpferdpeitsche durchaus erregende Schauer über den präadoleszenten Rücken huschen ließen. Da war ein Nachbarsjunge, mit dem das imaginäre Piratenspiel das eine oder andere Mal zu einer blutigen Racheorgie an Eltern und Lehrern wurde, denen genüßlich verschiedene Gliedmaßen in der Phantasie abgetrennt wurden. Da war schließlich der gut sortierte Bücherschrank meines Vaters voll mit Werken der erotischen Weltliteratur und Werken minderer Qualität, die meine inzwischen pubertären Phantasien beflügelten und in der Geschichte der "O" gipfelten. Berührungspunkte und Erfahrungen mit Erniedrigung, Ohnmacht, Schmerz und Leiden gab es also genug.

Ich glaube, daß sich schon sehr früh herauskristallisierte, was mich an SM-Spielen faszinierte: Die Verfügbarkeit des anderen, um ihm Lust zu verschaffen und an und mit ihm eigene Lust auszuleben, die damit verbundene Wehrlosigkeit, die es dem Kopf unmöglich machte, die Kontrolle über das Erleben der Lust zu behalten, die Befreiung von den Schranken einer sexuelitätsfeindlichen Moral, die in mir war, aber nicht meine war, der Wunsch nach tiefem Vertrauen und Hingabe einer Partnerin. Was sich jetzt wie ein klares Konzept persönlicher Entwicklungen lesen mag, ist das Ergebnis von nicht weniger als einem Vierteljahrhundert persönlicher Irrungen und beziehungsreichen Wirrungen, halbherzigen bis feigen Versuchen, dem dunklen Verlangen in mir nach noch unklaren Gelüsten, die auszusprechen ich niemals gewagt hätte, nachzugeben, jahrelangem Verdrängen und kunstvoller Rationalisierung im Kopf, daß "so etwas" ja schließlich pervers sei, wobei Bilder und Wünsche in meinem Kopf immer wieder auftauchten und sich festsetzten.

Zaghaften Versuchen über einschlägige Magazine und Kontaktanzeigen Menschen ähnlicher Neigungen zu finden, denen regelmäßig herbe Ernüchterung folgte, weil die Reaktionen entweder ganz ausblieben oder zwanglos in ein Kompendium menschlichen Elends hätte aufgenommen werden können, schloß sich eine lange Phase der Resignation an. Erst der Zugang zum Internet änderte die Situation radikal. Die Vielzahl von Websites, die sich mit BDSM beschäftigten führten mich auch zum IRC, dem Internet Relay Chat, und damit zu einer Möglichkeit authentischer und direkter Kommunikation mit Menschen, die sich auch und aus denselben Gründen wie ich mit BDSM beschäftigten. Ich danke noch heute dem gütigen Schicksal, das mich zu diesem neuen Medium führte, das unter dem Schutzmantel freundlicher fast-Anonymität den Austausch von Erfahrungen, Wünschen und Phantasien ermöglichte. Dort traf und fand ich das erstemal in meinem Leben andere Menschen, die nicht nur dachten, empfanden und fühlten wie ich, und damit mein schon als endgültig angesehenes Schicksal gnadenloser Vereinzelung aufhoben, dort waren auch Menschen, die das, was sie wollten, taten, erlebten und nach durchschnittlichen Moralvorstellungen auch ziemlich unschicklich, aber in vollen Zügen genossen.

Der Rest ist schnell erzählt: Nach zwei, drei Monaten regelmäßigen Besuchs im IRC folgten die ersten Treffen mit Menschen, die ich dort kennengelernt hatte, wobei sich diese Menschen in den meisten Fällen als ebenso außergewöhnlich wie liebenswert darstellten, es kam zur ersten Teilnahme an einer SM-Fete, deren Atmosphäre ich wie ein ausgetrockneter Schwamm das Wasser in mich aufsog, intensive und offene Gespräche über Wünsche, Vorlieben, Grenzen und Empfindungen und schließlich das erste Date mit einer 16 Jahre jüngeren Frau. Um Spekulationen vorzubeugen : Nein, ich bin kein Kinderschänder, ich war 44, sie 28. Da BDSM im Wesentlichen zwischen den Ohren stattfindet werde ich mich jetzt nicht in lustvollen Details ergehen, aber es waren drei aufregend schöne, harmonische und intensive Tage, die ich in meinem Leben nicht missen möchte, auch wenn es mir heute noch peinlich ist, daß ich trotz halbstündiger Suche im ganzen Haus kein Feuerzeug fand, um eine Kerze anzünden zu können. Wachsspiele stellen an die organisatorischen Fähigkeiten eines Tops doch erhebliche Ansprüche. Nach der Erfahrung dieser drei Tage hat sich mein Leben geändert: ich wußte, daß mir BDSM tatsächlich Spaß macht, ich wußte, daß es keinen Grund gab und gibt mich für diese Praktiken zu schämen, die ich im vollen Einvernehmen mit meinen Partner(inne)n genieße, ich wußte, daß ich auf diesen Bereich als Teil meiner Sexualität nicht mehr würde verzichten wollen, ich wußte, daß ich einen weiteren Schritt gegangen war, um zu verstehen, wer ich bin.

Die Kontakte zu meinen bisherigen Freunden außerhalb der "Szene" haben sich weiter reduziert, meine Ehe ist in Auflösung begriffen, wofür BDSM nur zu einem gewissen, aber nicht essentiellen Teil verantwortlich ist. Mein Selbst ist runder geworden und ruhiger. Das Outing findet wenn, dann nur gezielt statt, was zum einen daran liegt, daß ich als Jurist in einer bayerischen Stadt nicht unbedingt in einen öffentlichen Diskurs über meinen Lebensstil verwickelt werden will, zum anderen daran, daß die Menschen, die mir heute wichtig sind, fast alle aus der "Szene" sind oder zumindest wissen, was mich interessiert. Mein älterer Bruder hat mir spontan eine nicht unbeachtliche Sammlung themenbezogener Videokassetten geschenkt, als ich mich ihm gegenüber outete, mein damals 78jähriger Vater kommentierte meine verspätete Lebensbeichte mit dem ihm eigenen liebevollen Schmunzeln "also Sachen macht ihr, na ja, das wäre jetzt nichts mehr für mich" was ich als väterlichen Segen interpretierte und mich moralisch gestärkt und innerlich bestätigt hat.

Heute bewege ich mich in der Szene, kritisch, weil es auch hier Verhaltensweisen und Strukturen gibt, die hinterfragt werden müssen, liebevoll, weil ich sehr viele liebevolle und liebenswerte Menschen dort treffe, die verantwortungsbewußt mit sich, ihrer Lust, ihrem Körper und Ihren Gefühlen und ihren Partnern umgehen, vorsichtig, weil die Tatsache, daß jemand BDSM praktiziert ihn natürlich per se nicht zu einem vertrauenswürdigen Menschen macht, aufmerksam, weil ich gerade in diesem Bereich Menschen treffe, deren Seelen verletzt und mißbraucht worden sind, bevor sie BDSM auch als therapeutische Katharsis zu erleben suchen.

Mit BDSM ist es wie mit allem, was einen reizt, bewegt, erschreckt: es ist vernünftiger es auszuprobieren, als ein Leben lang danach zu lechzen. Ob es etwas für einen ist, weiß man, nachdem man es versucht hat und sich in eine schwarze Lederhose zu zwängen und auf eine Fete zu gehen ist im allgemeinen nicht gefährlicher als in das Zelt vom Schottenhamel auf dem Münchner Oktoberfest, wenn man sich vorher informiert, ein paar Grundregeln über Sicherheit beachtet und den Schlüssel für seine Handschellen nicht verliert. Und selbst dann wird man überrascht feststellen, wie viele Menschen dieses Einheitsschlüsselchen für die deutschen Einheitshandschellen an ihrem Schlüsselbund tragen.

© Kathrin Passig - Ira Strübel 2000-2001